Mein geliebter Freund,
als wir uns das erste Mal gesehen haben, warst Du eine kleine Beule unter einem Teppichstück in einem Hasenkäfig, und der Katzenverein nannte Dich „Notfall“. Bis heute weiß ich nicht, worin der Notfall eigentlich bestand, aber meine direkte Nachfrage an Dich per Hand unter den Teppich beantwortetest Du mit fünf blutigen Striemen auf meiner Hand. Aber eines hast Du mir dennoch gesagt, gleich beim ersten Blick „Ich heiße O’Melley“. Einen Vornamen hast Du mir nie verraten, aber ich fand den Namen auch so immer wunderschön.
Linus war schon einige Monate bei mir, schmusig, menschenbezogen, immer da, wild, verspielt und irgendwie doch allein, weil ich ja auch nicht 24 Stunden am Tag da sein konnte. Ich beschloss, Dir einen Platz in unserer Mini-Familie zu geben. Du fandest das gar nicht so prima. Deine erste Tat in meiner Wohnung war das Aufdecken einer Schwachstelle. Zwischen Herd und der Abdeckleiste der Einbauküche war ein winziger Spalt .. Du fandest ihn mit Deinem untrüglichen Gespür für sichere Orte und hocktest dann unter der Einbauküche. Das erste Mal, dass Du „Sicherheitsmängel“ entdecktest, aber nicht das letzte Mal.
Du hast Dich verkrochen, Du warst nur ein Schatten hinter dem Sofa, unter den Schränken, immer weit weit weg. Auf’s Klo bist Du nur gegangen, wenn niemand da war oder alles schlief. Du wurdest schlimm krank, und da ich Dir keine Medikamente geben konnte, Dich nicht einmal anfassen oder einfangen konnte, um Dich zum Tierarzt zu bringen, gab ich Dich nochmal zur Behandlung an den Katzenverein zurück. Mir blutete das Herz, Dich gehen zu sehen, aber ich war auch erleichtert, denn Du warst so schwierig, ich hatte nicht das Gefühl, Dir mit unserem gemeinsamen Leben einen Gefallen zu tun.
Ja, ich gebe es zu. Ich habe damals überlegt, ob ich Dich überhaupt wiederkommen lasse. Ich hatte Angst, Dir nicht gerecht zu werden, ich hatte Angst überfordert zu sein. Aber ich hatte Dir, platt auf dem Bauch vor der Couch liegend (eine Haltung, die ich in den ersten Monaten SEHR oft eingenommen habe) in einem unserer stundenlangen Gespräche bereits versprochen, immer gut auf Dich aufzupassen, Dir ein Heim zu bieten und einen Ort, an dem Du nie wieder hungern, dürsten oder Angst haben musst.
Am 29.01.1995 zogst Du dann genesen wieder bei uns ein. Und brachtest aus der Pflegestelle alles an Ungeziefer mit, was Katz so aufsammeln kann. Flöhe, Milben, Würmer. Ein weiteres halbes Jahr folgte, in dem ich Dich mit meinen Händen malträtieren musste, um Dich zu behandeln. Es war für uns beide die Hölle.
Die Monate vergingen, und Deine Scheu nahm nur sehr zögerlich ab. Manchmal sah ich Dich auf der Fensterbank sitzen, wenn ich daheim vorfuhr. War ich drin, warst Du schon wieder verschwunden. Wie oft habe ich Dich stundenlang gesucht? Du hattest Dein Leben lang die Fähigkeit, einfach mal für ein paar Stunden zu verschwinden, und dann plötzlich wieder aufzutauchen. Ich habe nie herausgefunden, wo Du dann gesteckt hattest.
Es waren bei Gott keine leichten Jahre, unsere ersten, lieber O’Melley. Sie waren geprägt von Vorsicht, Furcht, Hilflosigkeit und Missverständnissen. Ich hatte einen kleinen Gasofen in meiner Wohnung stehen, und dort zwischen Ofen und Wand, in diesem katzenbreiten Streifen, da durfte ich Dich füttern. Aber nur, wenn beide Fluchtwege vorn und hinten offen waren.
Es mag vielleicht nach etwas mehr als einem halben Jahr gewesen sein, dass ich Dich zum ersten Mal schnurren hörte, als ich Dir Dein Futter hinstellte. Ich habe geweint vor Freude.
So ist es immer geblieben, über all die vielen Jahre. Du hast Deine Gunst niemals bereitwillig verschenkt, Du hast sie nur gelegentlich gewährt. Und jeder, der sich Dir nähern durfte, fühlte sich beschenkt und war stolz darauf. Auf Deine unnachahmliche O’Melley-Art hast Du jeden, der in Deiner Nähe war, in Nullkommanix um die schwarze Pfote gewickelt.
Nicht so laut reden, das ängstigt O’Melley, nicht so schnelle und hektische Bewegungen, dann haut er ab! In meinem Leben hat sich 13 Jahre und 8 Monate lang alles nur um Dich und Deine Befindlichkeiten gedreht. Linus, der unkomplizierte Kumpel, ist immer mit allem irgendwie zurecht gekommen, nur um Dich haben wir uns immer alle Sorgen gemacht, wir alle wollten so gern Dein Vertrauen haben und es niemals aus Versehen missbrauchen.
Menschenhände waren Dir immer ein Greuel. Sobald man nach Dir griff, wurdest Du zu der Wildkatze, als die Du geboren warst. Du bekamst 1000 Beine und Pfoten und ebenso viele Krallen. Man sagte mir damals, Du seiest wohl als Jungkatzer mal misshandelt worden. Ich respektierte das, und fasste Dich nur an, wenn Du signalisiertest, dass Du es wünschst. Es hat fast ein Jahr gedauert, bis Du mir mal bei der Vorbereitung zum Futtern um die Beine gestrichen bist. Einmal Dein seidiges Fell flüchtig über den Rücken streicheln zu dürfen, war mir eine Auszeichnung, über die ich mich tagelang gefreut habe.
Du hast über ein Jahr gebraucht, bis Du das erste Mal gespielt hast! Wie selbstvergessen Du Deinen Ball gejagt hast. Wie glücklich war ich über diesen Anblick, denn er war so ein bisschen "normale Katze“. Wenn Du merktest, dass man Dir zusieht, hast Du Dich schnell geputzt und den peinlichen Moment so überspielt. Ein O’Melley läßt sich nicht einfach so gehen, das gehört sich nicht!
Überhaupt bist Du immer ein bisschen feiner gewesen. Während Bruder Linus das Futter inhaliert, hättest Du am liebsten mit Messer und Gabel gegessen. Bloß kein Futter auf das edele Fell kriegen, und nach jedem noch so kleinen Bissen wurde erstmal ausführliche Fellpflege betrieben. Du bist ein Gourmet gewesen. Während für Linus gutes Futter nur aus Büchsen mit der Aufschrift „Katzenfutter“ kommt, hast Du gern ein gutes Stück vom Tisch erbettelt (auch wenn Du Dich für diesen Niedergang der guten Sitten immer geschämt hast), notfalls auch mal was geklaut. Aber billiger Käse aus der Plastikverpackung sollte es nie sein, das edle Zeug von der Käsetheke, ja, das war Deiner würdig! Du bist immer scheu geblieben, und wolltest mit Menschenhänden nichts zu tun haben. Aber für gutes Essen hast Du diesen Punkt gern mal überwunden.
Während Linus immer schon im Bett lag, wenn ich nur die Tür zum Schlafzimmer abends öffnete, warst Du immer der „Licht-aus-Kater“. Sobald die Lichter gelöscht waren und Ruhe eingekehrt, kamst Du angetapert. Und hast auf der Fensterbank noch die Welt und das Universum erforscht. Dann hast Du Dich irgendwann auch zu uns gelegt. Weit weg von uns, und doch dabei. Irgendwo am Fußende, da habe ich Dich dann gespürt, und ab und zu in den ersten Jahren hast Du dann dort leise vor Dich hingeschnurrt.
War ich krank, lag im Bett, hatte einen meiner schlimmen Migräneanfälle, dann warst Du da. Leise, unauffällig, und doch so präsent. Linus und Du, ihr habt Euch immer abgewechselt als Pflegekater. Einer von Euch hat immer bei mir gelegen, nach 2-3 Stunden habt ihr Euch abgewechselt. Musste ich mich wieder mit meinem Eimer unterhalten, hast Du Dich auch aufgesetzt, Deinen wunderschönen Schwanz um die Pfoten gelegt, das Köpfchen ganz schief und dann hast Du mir voller Mitgefühl zugezwinkert. „Das wird schon wieder!“. Du weißt gar nicht, wieviel Trost mir das in diesen elenden Momenten immer geschenkt hat. Ich war nie allein, ich war immer bewacht, ich habe mich von Euch behütet und beschützt gefühlt. Insbesondere von Dir, auch wenn Du die körperliche Distanz nie richtig aufgegeben hast.
Als das Menschenmännchen in unser Leben kam, hatte ich große Sorge. Er hatte nie zuvor Tiere, wie würde er mit uns zurecht kommen? Und grade mit Dir? Würde er auch ausreichend Rücksicht auf Dich nehmen können? Die Sorge war unbegründet, denn bereits nachdem er nur zwei Stunden bei uns verbracht hatte, ich kurz das Zimmer verließ, fand ich ihn flach ausgestreckt auf dem Boden in gebührendem Abstand vor Dir liegen. Und er säuselte beruhigende Worte in Deine Richtung. „Du schöner schwarzer Kerl, komm ruhig näher, ich tu Dir nichts!“. Eure Leidenschaft für gute Essen und edlen Käse hat Euch vereint. Du befandest ihn schnell für würdig, sich Dir nähern zu dürfen. Du akzeptiertest ihn und hattest einen Strich mehr auf der Liste „Wen ich alles um die Pfote gewickelt habe!“. Er war Dein bester Fang, er hat Dir vom ersten Tag an jeden Wunsch von den tiefgründigen Augen abgelesen.
Als wir von NRW nach Sachsen umzogen vor 7 ½ Jahren, da galt meine größte Sorge Dir. Wie würdest Du Dich in fremder Umgebung fühlen, was würde dieser Umzug auf Dein empfindsames Gemüt für Auswirkungen haben? Linus würde das packen, Linus war immer schon da Zuhause, wo ich war. Aber Du, lieber O’Melley? Wie würdest Du zurecht kommen?
Wir ließen Euch am ersten Tag die Strapazen der langen Reise in einem Zimmer verarbeiten. Als wir die Türe zum Rest der Wohnung öffneten, da warst Du es, der neugierig und forsch die neue Welt erkundete! Linus hat sich noch tagelang ins Hemd gemacht, ist nur geduckt durch die Gegend geschlichen. Du hingegen hast in Deiner typischen O’Melley-Wackeldackelkopf-Manier die Welt erkundet.
Ich werde dieses Bild und diese Haltung nie vergessen. Wenn Du sehr neugierig warst, dann bist Du immer mit spitzem Gesichtchen voran, den Hals ganz langgestreckt, und hast mit vor Neugier hoch und runter ruckelndem Köpfchen eine Situation bewertet. Ein wunderschöner und putziger Anblick.